Bewusst und unbewusst führt man fast jede Information einer persönlichen Wertung zu. Ob eine Aussage relevant erscheint, plausible Ideen enthält oder weiterführende Gedanken nahelegt, entscheidet sich u.a. am Vorwissen, am Erfahrungsschatz, an der Sozialkompetenz wie auch an den wertebezogenen Überzeugungen.
Vor diesem Hintergrund befasst sich zum Beispiel der italienische Neurophysiologe Fabrizio Benedetti u.a. damit, inwieweit das menschliche Denken und Fühlen von psycho-sozialen Faktoren geformt wird. Eine tragende Rolle scheint dabei den Einflüssen formaler Autoritäten zuzukommen, beispielsweise in Person von Vorgesetzten, Expertinnen und Experten, Funktions-, Amts- und Würdenstragenden. Informelle Bezugspersonen kommen noch hinzu, zum Beispiel innerhalb der Familie, innerhalb der Nachbarschaft und innerhalb der Freundes- und Bekanntenkreise.
Die erfahrungsgestützte Beobachtung zeigt, dass Pessimismus und Schwarzseherei den Gesundheitszustand eines Menschen organisch beeinträchtigen können und sich manchmal sogar auf andere übertragen. Diese Auswirkungen werden als „Nocebo-Effekt“ beschrieben. Der lateinische Begriff nocebo bedeutet: „Ich werde schaden.“ Darin klingt bereits die positive Gegenkraft an, nämlich das Placebo – zu Deutsch: „Ich werde gefallen.“
In welchem Maß man selbst für diese Phänomene empfänglich ist, scheint je nach Persönlichkeitstyp zu variieren. Beispielsweise geraten psychosomatisch veranlagte Menschen eher in den Bann des Nocebo-Effekts als diejenigen, die eher rein organisch erkranken, also: keine erkennbaren psychischen Komponenten aufweisen, wenn sie erkranken.
Den Nocebo-Effekt begünstigt man auch, indem man dem körperlichen Befinden grundsätzlich hohe Aufmerksamkeit widmet. Denn dabei können sich „negative Gedanken“ mehren und dazu beitragen, sachliche Informationen als inbegriffene Prognosen aufzufassen, hiergegen den Kontext zu vernachlässigen. Durch eine solche Wechselwirkung erliegt man relativ leicht dem Trugschluss, dass mögliche Komplikationen „höchstwahrscheinlich“ eintreten würden – statt „ausnahmsweise.“ Oder dass problematische Verläufe quasi vorgezeichnet wären – statt als „eventuell“ quasi randständig aufzutreten. „Oder nicht“.
Laut Benedetti ist der Nocebo-Effekt hirn-physiologisch insofern messbar, als dass „negative Gedanken“ die Ausschüttung des „Glücks-Hormons“ Dopamin dämpfen. Ein Botenstoff, der die Schmerzerwartung begleitet – Choleszystokinin (CCK) – wird hingegen vermehrt freigesetzt.
Als nachweisbar gilt zudem, dass…
– …typischerweise Unsicherheiten dieser Art vor allem bei Angst-Patienten und Angst-Patientinnen auftreten. Zum Beispiel, wenn sie kurzfristig einen Operationstermin bekommen, eine Behandlung spontan verschoben werden muss oder wenn sie über die Nebenwirkungen von Medikamenten aufgeklärt werden: in der Apotheke, in der ärztlichen Praxis, auf rechtlich vorgeschriebenen Beipackzetteln oder in anonymen Online-Foren
– …diejenigen, die „sich selbst“ einer Risikogruppe zuordnen, den Risikofall „heraufbeschwören“ können, im Sinne einer „sich selbst“ erfüllenden Prophezeiung, die allerdings eine negative „Ladung“ trägt. Wer beispielsweise berufsbedingt meint, in Bezug auf das Burnout-Syndrom gefährdet zu sein, steuert auf eine solche Erkrankung tatsächlich eher zu andere
– … eine selbst herbeigeführte Informationsüberflutung teilweise Vorschub leistet, zum Beispiel, wenn man mit übersteigerter Aufmerksamkeit den medialen Katastrophenberichten und Krisenszenarien folgt, in Dauer-Stress gerät und regelmäßig mit Grübeleien zu tun bekommt.
Inzwischen ist beispielsweise hinlänglich bekannt, dass das bundesdeutsche Gesundheitssystem „kostenbewusst“ arbeiten muss und sogenannte „Generika“ preiswerter sind als Marken-Medikamente. Aus dem Preisgefälle leitet manch ein Mensch jedoch irrtümlich ab, dass die Generika weniger wirksam seien. Die Krux ist: Wer davon tief überzeugt ist, schmälert die Wirkung der Generika tatsächlich, und zuerst im eigenen Körper
– …Menschen eher dazu neigen, einen gesundheitlichen Niedergang für sich selbst zu erwarten, wenn sie eine gravierende Krankheit bereits überwunden haben. Die Genesungserfahrung bringt ihnen das Vertrauen in den eigenen Körper nur bedingt zurück. Die Skepsis überwiegt, wie auch der persönliche Eindruck vom vormals erkrankten Leib. Wer bislang keine schwere Erkankung erlebt hat, schätzt den eigenen zukünftigen Gesundheitszustand vergleichsweise optimistisch ein.
– …Senioren und Seniorinnen für „negative Gedanken“ anfälliger sind, wenn sie ihre sozialen Kontakte überwiegend in ihrer eigenen Altersgruppe verankern, statt sich in den generationsübergreifenden Austausch einzubringen. De facto gilt zwar ein alter Körper als weniger krankheitsresistent als ein junger, weil zum Beispiel das Knochengerüst naturgemäß verschleißt. Allerdings kann zur Akut-Erkrankung auch beitragen, dass man miteinander wetteifert, wer gerade in der bedauernswerteren – sprich: aufmerksamkeitsbedürftigeren – Verfassung ist, wer zeitlebens die meisten Krankheiten durchgemacht hat, oder die schwersten. Oder die längsten. Oder die seltensten. Oder die komplexesten. Die Erwartung, selbst zu erkranken, steigt übrigens, wenn man Kranke zufällig sieht oder im Krankenhaus besucht.
– …“negative Gedanken“ kulturell spezifische Komponenten haben. Zum Beispiel fürchten sich manche Chinesen vor Schildkröten, weil der Volksglaube besagt, dass die männliche Potenz in Gefahr gerät, sobald die Schildkröte in der Gegenwart des Mannes ihren Kopf einzieht.
Um dem Nocebo-Effekt entgegenzutreten, kann man die eigene Gesundheitsfürsorge bewusst und rational betreiben:
Zum Beispiel durch Sport, Safer Sex und Vorsorge-Untersuchungen wie Impf-Schutz. Auch der Wechsel in die sogenannte „Helikopter-Perspektive“ hilft, um objektiv(er) abzugleichen, ob die Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung außenstehender Menschen ungefähr übereinstimmt – oder nicht.
In der zwischenmenschlichen Kommunikation ist zudem förderlich, sich und andere offen zu fragen: „Wie geht’s?“ – statt anteilnehmend nachzufassen: „Was macht die Sommergrippe?“ Falls man erkrankt, trägt zur Genesung bei, Berichte über positive Krankheitsverläufe zu lesen – zum Beispiel von Patienten und Patientinnen, die diese Krankheit erfolgreich auskuriert haben – und Ausschlusskriterien zu beachten („entweder/ oder“) statt inklusiv zu denken („sowohl/ als auch“.)