Jana Chantelau

Heilpraktikerin für Psychotherapie (HeilPRaGe), Lerntherapeutin, Anti-Mobbing-Beraterin und Coach aus Berlin-Prenzlauer Berg.

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Sich generationsübergreifend erinnern

Die Friseur-Meisterin Edda W. zierte ihr Schaufenster mehr als vier Jahrzehnte lang mit vorder- wie hintergründigen Gedanken zur Woche im Kiez und zur Lage der Nation im Allgemeinen. Sie wuchs mit der Vorstellung auf, dass um sie herum die halbe Stadt das „Schaufenster der Freiheit“ sei: West-Berlin.

1944 nahe des „Berliner Balkons“ im Kaulsdorfer Krankenhaus bei Berlin geboren, war Edda sechzehn Jahre alt…

…als sie vor Ort miterlebte, wie ihr Patenonkel Erich mehr und mehr an Präsenz verlor – hinter Stacheldraht, Backsteinen und Beton. „Mein Onkel Karl war Maurer und hat ausgerechnet diese Mauer hochgezogen. Als ich ihn fragte: Warum? sagte er: Weil hinter mir ein Volkspolizist (VoPo) stand und eine Waffe in der Hand führte. Ich hatte Angst, den Fuß zu weit rüberzusetzen. Mehr hat er auch später nie dazu gesagt,“ meint Edda, „und Peter Fechter hatten sie in derselben Woche erschossen.“

1973 im Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin-Schmargendorf geboren, war ich sechzehn Jahre alt…

…als ich am 09. November 1989 ab 19 Uhr Ortszeit live und in Farbe erlebte, wie dieselbe Mauer den Hin- und Rückweg zwischen den West- und Ostteilen freigab und – für mich: erstmals, quasi erdrutschartig – möglich war, mit Reisepass ohne Visum binnen weniger Minuten von der Bundesrepublik Deutschland (BRD) herüberzulaufen in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und ebenso fix zum eigenen Ausgangspunkt zurückzugelangen.

Im Herbst 1989 hatte Edda mir diese persönliche Erfahrung voraus.

Sie war in den 50er Jahren noch zwischen unterschiedlichen Berliner Sektoren hin- und hergetingelt, „weil ich ja den Draht zum Patenonkel Erich hatte“, wie sie sagt. Hier und Heute in Berlin-Moabit auf die deutsche Teilung zurückzublicken, fällt Edda leichter als mir – u.a., weil aus ihrem Empfinden heraus Berlin „nicht westdeutsch ist oder war“, sondern eine Notgroschen-bedürftige Insel auf der politischen Landkarte, die meist für sich selbst (ein-) steht.

„Für Hertha BSC Berlin war es zum Beispiel schwieriger als für andere Bundesligisten, an tolle Spieler heranzukommen, weil die Herren sich daran störten, zu gesonderten Bedingungen durch das Transitgebiet fahren zu müssen, wenn sie auswärts kickten oder einfach mal die Stadt verlassen wollten,“ erinnert sich Edda. „Die Sporthochschulen der DDR – und die Stasi – bildeten die fußballerischen Talente am laufenden Band heran, sodass es in Ost-Berlin zeitweise drei spielstarke Profi-Mannschaften gab. Die Herthaner rannten wie angefressen dagegen an. Sie hatten mehr Erfolgsdruck, aber auch mehr Willen und Zusammenhalt als andere Clubs aus der Bundesliga.“

Nachdem Edda den Hertha-Anhänger Rolf geheiratet hatte – „er war so schön wie Bubi Scholz, und ich hab‘ seinen Antrag trotzdem angenommen“, sagt Edda – bekam sie die lokalen Ereignisse u.a. aus polizeilicher Perspektive mit. Denn Rolf war in die polizeiliche Beamtenlaufbahn eingestiegen, fuhr in Berlin-Kreuzberg Streife, hatte laut Edda mitunter den „randalierenden Lars (Br**d*) im Wagen“ und schulterte Überstunden. Zum Beispiel im Zuge des Passierscheinabkommens (1961 – 1973) zwischen der DDR und West-Berlin. „In Bonn hat Willy Brandt als Kanzler viel für uns getan. Und die VoPos haben Rolli fotografiert und Protokoll geführt. Aber er war standhaft und rief rüber, wenn es nottat. Und er warf ihnen am Checkpoint Charlie seine Marke zu. Dass sie nach dem Mauerfall ohne Bohei in den bundesdeutschen Polizeidienst übernommen wurden, stieß Rolli bitter auf,“ sagt Edda. „Das waren für ihn keine Kollegen.“

Hiergegen entspringen meine Eindrücke vom geteilten Deutschland vor allem dem Schuluntericht und den Austauschfahrten mit Partnerschaftsstädten in der DDR.

Als Teenager „lernte“ ich im Fach Gemeinschaftskunde von den Berlin-Krisen, dass die BRD ein „Bollwerk der Demokratie und Freiheit“ sei, u.a. aufgrund der Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Zugehörigkeitz zur North Atlantic Treaty Organization (NATO).

Dass die Deutsche Demokratische Republik zwar als „legitimierter Staat“ gelte, aber im „politischen Begriff“ weder demokratisch noch  republikanisch organisiert wäre, geschweige denn „real-sozialistisch“ handele, sodass nachvollziehbar sei, warum die BILD-Zeitung markante Anführungszeichen („DDR“) setze und Abitursanwärterinnen wie ich bitte den „Brüdern und Schwestern im Osten“ gedenken mögen, weil sie keine Chancengleichheit beim Zugang zu den Universitäten hätten, aufgrund fehlender Presse- und Informationsfreiheit gering befähigt darin blieben, sich eine eigene Meinung zum Weltgeschehen zu bilden und daher mit hiesigen „Eliten“  kaum mithielten. Et cetera pp.


Immerhin begegnete ich im Deutsch-Unterricht – quasi als Korrektiv dazu – u.a. den Texten von Autorinnen wie Christa Wolf und Sarah Kirsch, Dramatikern wie Bertold Brecht und Schriftstellern wie Ulrich Plenzdorf und Stefan Heym. Vor diesem Hintergrund sinnierte ich über die sozio-kulturellen und sozial-politisch bedingten Unterschiede zwischen den Menschen in Sachsen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, fuhr freihändig Fahrrad und summte dabei das Kinderlied über die Leute im Freistaat Bayern: „Ob er aber über Oberammergau, oder aber über Unterammergau, oder aber überhaupt nicht kommt, scheint nicht gewiss.“

Die intellektuelle Verstärkung ergab sich im Leistungskurs Religionswissenschaften, u.a. mit der Frage, wer oder was „Kirche“ ist, durch rhetorisch naturbegabte Mitschüler wie Oliver G. und dank – im besten Sinn – streitbarer Lehrerinnen wie Gisela Schäfer, die ihrerseits u.a. mit den Kirchenvertretungen der vormaligen DDR im regen Austausch stand und sich mit der Gemeinde vor Ort kritisch-emanzipatorisch auseinandersetzte.


Ich hörte von West-Berlinerinnen und West-Berlinern, die mit Fluchthelfern und Fluchthelferinnen befreundet waren und jahrelang unter dem Eindruck standen, dass sich Wecker, Küchenzettel u.ä. Gegenstände in ihren Wohunungen wie von Geisterhand zu bewegen schienen oder gänzlich verschwanden, wenn sie außer Haus waren, etwa bei der Arbeit oder beim Einkaufen. Mitunter sorgten solche „Phänomene“ innerfamiliär für handfesten Zoff, der im Rückblick keineswegs „hausgemacht“ anmutete. Das Gefühl – und letztlich: das Wissen – um Lügen, Verrat, Betrug und Doppelmoral kannte ich bereits aus eigener Anschauung, etwa mit Blick auf meine nazistischen Großeltern.

Für Edda und auch für mich war die Nacht vom 09. auf den 10. November 1989 gefüllt mit vorbehaltloser Freude.

Gleichwohl kursierten – zumindest in Berlin – teils angstbehaftetete, teils trotzige Sätze wie: „Mit Vorsicht zu genießen, vielleicht werden sie noch schießen.“ „Rüberlassen!“  „Wir kommen wieder!“ „Wir bleiben hier!“ „Wir sind ein Volk!“ Und: „Keine Gewalt!“ Lärm, Bewegung, die Reste von Sekt und Krimsekt wie auch einzelne Schlägereien säumten die Ränder des Straßenbilds.  An der University of Glasgow riet mir Dr. Annette Kuhn kurz darauf: „Always watch what happens at the edges of the frame.“ (Zu Deutsch in etwa: „Beobachte stets, was am Ausschnittrand passiert.“)

Anhand des Dialekts und der Kleidung, anhand des Haar- bzw. Bartschnitts und in Anbetracht des Autos konnte man sichere Wetten eingehen, wer in welcher Hälfte Berlins zuhause war – und wer „von außerhalb“ angereist kam. Berlinerinnen und Berliner, die zur jeweils „anderen Seite“ unterwegs waren, hatten mehrheitlich das Gefühl, zu touristisch Reisenden in der eigenen Stadt zu werden. Die Menschen in Berlin schienen mir davor und – bis dato – danach nicht wieder derart nervös-angespannt und zugleich so ausgelassen-fröhlich zu sein.
Auch jenseits deutscher Grenzen hinterließen die Tage und Monate nachhaltigen Eindruck. Während meines Studiums in Großbritannien wurde ich von den Mitstudierenden und Lehrenden wiederkehrend darauf angesprochen, sodass ich Theaterstücke schrieb und inszenierte und dabei thematischen Bezug auf die „friedliche Revolution“ nahm – und auf die ungezählten Diskussionen „davor“, „währenddessen“ und „danach. “


Edda erinnert sich vor allem daran, dass Rolli an diesen Tagen frei hatte, sie also mit ihm gemeinsam erleben konnte, was quasi vor der Haustür passierte und wie sich die Bedeutung der Geschehnisse abzeichnete, als das reguläre (West-) Fernsehprogramm ständig durch Nachrichtensendungen unterbrochen wurde. Und „wie die Oberbaumbrücke in Kreuzberg von wildfremden Menschen überflutet wurde, wie sich alle in den Armen lagen, vor Glück weinten und den Wessi im Ossi und den Ossi im Wessi erkannten. Schließlich urteilt jeder mal falsch. Und da sah ich auch, dass das Versprechen von Präsident John F. Kennedy eingelöst worden war. Als er 1963 vors Schöneberger Rathaus trat, stand ich ungefähr hundert Meter rechts von ihm und hörte ihn sagen: Ich bin ein Bearleener. Und: Let them come to Berlin. (Zu Deutsch: Lasst sie nach Berlin kommen.) Ich wusste, dass das bedeutete: Ich würde ein vereintes Berlin selbst noch erleben, denn direkt hinter ihm bauten sie ja gerade weiter: an der Mauer.“

Berlin